Von den alten Griechen bis zu New-Age Joggern
Derzeit erleben wir einen wahren Lauf-Boom. Auf Straßen und in Parks, überall versuchen wir, dem Alltag zumindest ein Stück weit davonzulaufen. Laufen ist zu der körperlichen Aktivität unserer Lockdown-Realität schlechthin geworden. Während der Pandemie haben Millionen Menschen weltweit das Laufen für sich entdeckt. Für Viele ist es eine meditative Auszeit, die dabei hilft die langen Phasen des Drinnenbleibens zu überstehen und zugleich ein Lebensstil, der uns – trotz Abstand – mit einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten verbindet.
Vor circa zwei Millionen Jahren, auf dem Weg vom Affen zum Menschen, durchlief unsere Gattung einen wesentlichen physischen Wandel: Wir fingen an zu laufen. In unserem neuen Buch Laufwunder, sprinten wir in Windeseile durch die Evolution des Laufsports bis hin zum gegenwärtigen, modernen Gesicht der Laufkultur, die wahrhaftig eine der diversesten und vielschichtigsten Anhängerschaften hat.
Das Laufen erfreut sich aktuell besonders großer Popularität, seine Ursprünge als athletischer Wettkampf gehen allerdings bereits auf eine vorbiblische Zeit zurück. Der Wettlauf ist vermutlich der älteste sportliche Wettbewerb der Welt – so alt, dass wir ihn wahrscheinlich schon veranstaltet haben, bevor wir überhaupt die Mittel dazu hatten, ihn aufzuzeichnen. Antike griechische Quellen legen nahe, dass organisierte Laufwettbewerbe zum ersten Mal bei der Einführung der Olympischen Spielen im Jahr 776 v. Chr. zu sehen waren.
Der Laufsport, wie wir ihn heutzutage kennen, begann sich während der ersten Olympischen Spiele 1896 in Athen zu entwickeln. Leichtathletikwettbewerbe versetzten die Welt in Staunen, insbesondere mit dem Aufkommen neuer Medientechnologien, wie dem Radio und Fernsehen. Mit dem wachsenden Interesse der Medien an Leichtathletik im 20. Jahrhundert rückten Spitzenathleten immer mehr ins Rampenlicht und lenkten die Aufmerksamkeit auf wichtige Themen wie Rassismus, Diskriminierung und Bürgerrechte. Einer der größten solchen Momente ergab sich bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin, als der afroamerikanische Sprinter Jesse Owens vier Goldmedaillen gewann und damit die rassistische Propaganda der Nationalsozialisten unterminierte.
1967 versuchte ein Rennkommissar Kathrine Switzer an der Teilnahme am Boston Marathon zu hindern. Sie war die erste Frau, die an dem sonst reinen Männerrennen teilnahm und wurde somit zu einer weiblichen Symbolfigur für das Überwinden von Geschlechtergrenzen. Im folgenden Jahr wurden Tommie Smith und John Carlos zu kulturellen Ikonen, nachdem sie bei den Olympischen Spielen 1968 in Mexiko-Stadt als Sieger durch das Ziel mit dem Black-Power-Gruß gelaufen waren. Laufen hat die Kraft, als ein Katalysator für politischen Wandel und persönliche Veränderung zu wirken.
In seinem Buch Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede (2007), schrieb der japanische Autor und leidenschaftliche Läufer Haruki Murakami: „Sich selbst bis an seine persönlichen Grenzen zu verausgaben, das ist die Essenz des Laufens und eine Metapher für das Leben überhaupt.” Bei dieser Verausgabung durchflutet der Körper das Gehirn mit Endorphinen bis zum Punkt der Euphorie. Wir sprechen von einem “Runner’s High”— Geist und Körper stehen im Einklang. Für viele von uns ist diese Euphorie möglicherweise die engste Annäherung an ein bewusstes, legales und religionsfreies Transzendentalerlebnis. Manche sehen das Laufen aufgrund seiner metaphysischen Ebene als eine Art von Therapie. Andere wiederum sehen darin eine Flucht, ein Gegenmittel zu Bildschirmen und Algorithmen, zu Lärm und Unruhe der modernen Welt. Das Laufen kann natürlich beides sein, und Laufen kann man fast immer und überall – das macht es so wunderbar.
‘Laufwunder’ stellt Menschen vor, die die Grenze zwischen Möglichem und Unmöglichem Schritt für Schritt neu definieren. So würden es wohl nur wenige Menschen für ratsam halten, nachts in den Favelas von Rio de Janeiro zu laufen, doch die Ghetto Run Crew ist dabei das zu ändern. Júnior Negão und Gisele Nascimento erklären, wie sie die Straßen einer Stadt zurückerobern, die bekannt ist für seine schwere Kriminalität. In diesem Buch erzählen Laufkollektive und Individuen ihre Geschichten über einen Sport, der ihr Leben oder ihre Umgebung verändert hat.
Einst war Mimi Anderson eine widerwillige Läuferin, die im Alter von 36 Jahren keine Minute auf dem Laufband schaffte. Weniger als 20 Jahren später hält die schottische Läuferin drei Weltrekorde im Ausdauerlauf und mehrere Guinness-Weltrekorde. Auch das Leben von Justin Gallegos hat sich durch das Laufen stark verändert, trotz seiner Zerebralparese, die selbst das Gehen zu einer Herausforderung macht, ist er heute professioneller Läufer und wurde zum ersten Profisportler mit Zerebralparese, den Nike unter Vertrag nahm. Als Athlet treibt er sich selbst immer wieder zu höheren Leistungen an und zeigt, dass das was viele für Unmöglich halten möglich ist.
Für die meisten Menschen ist das Laufen eine Möglichkeit der Politik des täglichen Lebens zu entfliehen. Für Thị Minh Huyền Nguyễn und Daniel Medina ist das Laufen selbst ein politischer Akt. Beide sind marginalisiert aufgewachsen: sie in Deutschland als Tochter vietnamesischer Einwanderer und er als queerer Sohn zweier kolumbianischer Eltern, die in die USA zogen, als er elf Jahre alt war. In Berlin bilden sie den Kern des Wayv Run Kollektiv, eine Laufgruppe, die es sich zum Ziel gemacht hat, „Schwarze/Braune, Queere, Frauen, Trans, Muslime, Unterrepräsentierte und marginalisierte in Bewegung zu bringen.” Beide setzen sich aktiv dafür ein, sichtbar zu sein und wollen dafür sorgen, dass die Mitglieder des Kollektivs nicht ignoriert oder übersehen werden.
Neben den unzähligen Spitzenleistungen, Marathons und Meilensteinen, die professionelle Läufer auf der ganzen Welt immer wieder zu neuen Höchstleistungen antreiben, ist der Sport vor allem wegen seiner Zugänglichkeit und positiven Wirkung auf die Psyche so beliebt. Beim Laufen können wir lernen, selbst das Tempo, die Umgebung und unsere Ziele zu bestimmen. Es erlaubt uns, sich für einen Moment von unseren Gedanken zu lösen und mit der Natur oder Stadt zu verbinden. Abgesehen von einem Paar Turnschuhe braucht es nicht viel zum Laufen. Unabhängig davon, ob Fitnessstudios und Trainingsplätze geöffnet haben oder genügend Spieler für eine Mannschaft zusammenkommen dürfen, gelaufen werden kann trotzdem. In Zeiten des Homeoffice ist Laufen wohl die sportliche Aktivität überhaupt – etwas, das jeder zumindest einmal ausprobieren kann. Wie Edson Sabajo, Streetwear-Pionier und Gründer des Amsterdamer Laufclubs Patta Running, im Buch sagt: „Ich rauche und trinke, und ich bin 45 Jahre alt. Wenn ich das kann, könnt ihr Motherf*ckers das auch."