Die visuelle Aufarbeitung eines Jahres, das es so in der jüngeren Geschichte noch nicht gegeben hat
“Ich sage das normalerweise nicht laut, da Schönheit um der Schönheit willen in der Welt der kommerziellen Illustration eher etwas von unbeholfener Eitelkeit hat”, sagt Zoë van Dijk, ”aber wenn ich ehrlich bin, möchte ich einfach nur schöne Bilder zeichnen.” Die unvorhergesehene Härte mit der uns die Ereignisse des Jahres 2020 getroffen haben, haben eine Sehnsucht hinterlassen: In einer Zeit, in der die Nachrichten Angst in uns hervorrufen, waren van Dijks zarte Illustrationen ein wahrer Silberstreif am Horizont.
Die in Los Angeles lebende Künstlerin ist bekannt für ihr Spiel mit Licht und Schatten. Aus diesem Kontrast heraus, erschafft sie atmosphärische Welten, die dem Betrachter mystisch und zugleich vertraut erscheinen. Ihre Ideen beginnen mit handgezeichneten Skizzen, denen sie später mit Aquarellfarbe Leben einhaucht. Im nächsten Schritt bearbeitet sie die unfertigen Zeichnungen in Adobe Photoshop, das mehr Möglichkeiten zu experimentieren bietet. Ihren Arbeiten wohnt viel ihrer eigenen Persönlichkeit inne. Es gibt eine spürbare emotionale Verbindung, obwohl sie, wie sie selbst sagt, kein emotionaler Typ ist: “Ich neige dazu, meine Emotionen mit mir selbst auszumachen”, erklärt sie. Stattdessen drückt sie ihre Gefühle visuell aus, indem sie zeichnet, was der zu illustrierende Text sie fühlen lässt. Mithilfe von Licht und Schatten verwandelt sie das Alltägliche in etwas Mystisches und manchmal sogar in etwas Magisches.
Seit ihrem Abschluss an der School of Visual Arts im Jahr 2015, arbeitete van Dijk unter anderem mit NPR, The Intercept, Politico, The Washington Post und The Atlantic zusammen. Ihre Arbeiten wurden von American Illustration, der Society of Illustrators und bei den World Illustration Awards ausgezeichnet. Und dennoch spricht sie unverblümt über ihre anfänglichen Ängste und Probleme nachdem sie sich entschieden hatte als Freiberuflerin zu arbeiten – eine erfrischende Offenheit, die die allzu oberflächliche Erfolgsgeschichten der Branche in Frage stellt. Sie stammt aus einer Familie von Selbstständigen: “Meine Mutter ist Illustratorin, mein Vater war Klempner und mein Bruder arbeitet seit kurzen als freiberuflicher Studiomusiker”, erzählt sie uns. “Aufzuwachsen und hautnah mitzuerleben, wie meine Eltern ihr Geschäft aufbauten, wie lange es dauerte und wie mühsam es war, was für ein Geduldsspiel eine freiberufliche Karriere sein kann, war sehr prägend für mich und die Erwartungen, die ich an meine Karriere hatte.” Nach einem Jahrzehnt Arbeit in einem Restaurant mit niedrigem Lohn, beschloss van Dijk, nach der Schließung des Restaurants, den Schritt in die Vollzeit-Selbstständigkeit zu wagen. Doch ohne die finanzielle Absicherung, die der Aushilfsjob ihr gegeben hatte, galt es Monate voll großer Unsicherheit zu überstehen bevor es ihr endlich gelang Fuß zu fassen.
Um in der Welt von News und Leitartikeln, in der “das Konzept König ist”, als Illustrator herauszustechen, gilt es, die richtige Balance zwischen persönlicher und professioneller Arbeit finden. “Ich mochte redaktionelles Illustrieren schon immer gern – das gemeinschaftliche Arbeiten, die Interpretation der Gedanken des Autors und die Suche nach dem Weg die Kombination unserer Ideen dem Betrachter zugänglich zu machen”, erklärt sie. “Ich respektiere die rohe Kraft, die hinter der utilitaristischen Idee reiner Zweckdienlichkeit steht. Viele meiner Kollegen können ein umfangreiches Konzept kurz und bündig erklären, viel besser als ich es je könnte. Ich selbst dagegen habe immer auf die sanfte Kraft des Subtilen gesetzt und vertraue darauf, dass sich dieser Ansatz dem Betrachter vermittelt.”
Dieses Vertrauen in ihr Publikum zeigt sich auf fast poetische Weise in den fünf Cover-Illustrationen “The Triumph of Life” für Politico – einer ersten Reflexion des Jahres 2020 von der Pandemie bis hin zur Politik. Tim Ball, Creativ Director von Politico und “überhaupt ein echter Schatz”, schlug van Dijk während der Pandemie eine Zusammenarbeit vor. Sie erzählt uns, “abgesehen davon, dass sich die einzelnen Bilder am Ende zu einem großen Ganzen zusammensetzen sollten, bekam ich einen Freifahrtschein, eine Serie zu gestalten, wie ich es wollte. Ich kann gar nicht genug betonen, wie dankbar ich für Kreativdirektoren bin, die den Illustratoren vertrauen und ihnen den Spielraum geben, Werke zu schaffen, in denen sie sich wiedererkennen.” Die beiden entschieden sich letztendlich für ein Konzept, das einen ganzen Tag rund um den Globus zeigt: Angefangen von einer Morgendämmerung, die die Erinnerung an den verstörend orangen Himmel über L.A. während der Waldbrände im Sommer weckt, hin zu alltägliche Situationen und mit einer Nachtszene abschließend. Ausschnitte, die deutlich machen, dass Covid-19 uns alle erreicht hat, ganz gleich, wo oder wie wir leben.
Sie beschreibt die Serie als “Liebesbrief an die Menschheit.” Van Dijk erklärt, dass “jede der Personen auf diesen Covern versucht, ihr Bestes zu geben und auch wenn sie vielleicht scheitern, versuchen sie es dennoch. Wir leiden alle darunter, aber wir leiden gemeinsam.” Obwohl sie sich gerne als “schamlosen Miesepeter” bezeichnet, gesteht sie unumwunden: “Ich bin insgeheim ein Optimist, der die Widerstandskraft, den Sinn für Gemeinschaft und den Überlebenswillen, den die Menschheit in sich trägt, zutiefst liebt.” Auf der zweiten Titelseite der Serie sitzt ein übermüdeter Vater, mit Baby im Arm und Teenager-Tochter, in einem winzigen Haus. Der Vater balanciert seinen Laptop auf den Knien, während er dem Baby die Flasche gibt. Ihm fällt wortwörtlich die Decke auf den Kopf, gekrönt wird sein Kopf vom das Dach des Hauses – einschließlich des rauchenden Schornsteins. Der Surrealismus ist ein wichtiger Bestandteil in van Dijks Arbeiten, denn manchmal fühle sie sich “eingeengt und nehme mich selbst zu ernst.” Mit dieser Szene wollte sie das Gefühl von Gefangenschaft in den eigenen vier Wänden vermitteln, zeigen, dass unser Leben letztlich zu groß ist, um auf diese Weise eingeschränkt zu werden und dem Ganzen zugleich eine spielerische und vertraute Note geben.
In vielerlei Hinsicht markiert dieser Jahr einen Meilenstein in ihrer Arbeit und doch ist da “diese Schuld in mir – so viele Menschen haben momentan zu kämpfen und bei mir läuft es so gut”. Von einer eher philosophischen Seite aus betrachtet, hat ihr 2020 geholfen während des kreativen Prozesses milder zu sich selbst zu sein. “Ich kann mein schärfster Kritiker sein und redigiere meine Arbeit bis kaum mehr etwas übrig bleibt bevor es überhaupt eine erste Vorschau gibt. Aber es gibt keinen Platz mehr für Selbstsabotage”, erklärt sie, “es fühlt sich albern an, Selbstzweifel und kreative Zusammenbrüche wegen einer schlechten Skizze zu durchleiden während die Welt und mein Land auseinanderbrechen. Also lasse ich diesen Teil von mir einfach los.”
Auch bei der Einteilung der eigenen Kräfte, hat die Pandemie eine zentrale Rolle gespielt. Sie investiert jetzt “mehr Zeit und Energie außerhalb der Kunst, um mich lokal zu engagieren, sei es innerhalb der Illustratoren-Gemeinschaft oder in der Community hier in Los Angeles.” Außerdem engagiert sie sich für die Gleichberechtigung der Geschlechter. “Illustration ist so interessant, weil kommerzielle Illustratoren einerseits in der sozialen Hierarchie der Kunstszene an letzter Stelle in Bezug auf Ruhm, Reichtum, Ehre und Ego” stehen. Andererseits ist die Auftragskunst überall und wird von jedem gesehen. Gebrauchsgrafiker und -illustratoren haben die Fähigkeit, den kollektiven Geschmack tiefgreifend zu beeinflussen.
“Genau aus diesem Grund, glaube ich fest daran, dass Illustratoren eine moralische Verantwortung haben, die eigene Rolle in Bezug auf die Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Normen, die Vorherrschaft bestimmter Gruppen oder das Ausradieren unterrepräsentierter Menschen, zu hinterfragen”, sagt van Dijk. Sie glaubt, dass ihre Branche die Macht hat, alle Formen von Hegemonie herauszufordern, sei es Rassismus, Sexismus, Homophobie, Behindertenfeindlichkeit, Diskriminierung auf Grund von Aussehen und Gewicht und viele mehr. Worauf es am Ende wirklich ankommt, sei sicherzustellen, dass alle Menschen repräsentiert werden – dass “die gesamte Menschheit sich in unseren Illustrationen wiederfindet.” Die Arbeit ist nie getan! Jeden Tag fragt sie sich, warum sie eine Frau anstelle eines Mannes zeichnet oder diesen bestimmten Hautton wählt, warum sie jemanden eher wie zwanzig als fünfzig aussehen lässt oder jemanden dünner als dicker zeichnet. “Ich gratuliere mir dazu nicht. Das ist einfach mein Job. Das ist unser aller Job, kollektiv, als Illustratoren.”
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